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Zahlreiche Menschen erkranken während der Pandemie infolge einer Corona-Virus-Infektion und durchleben teils leichtere, teils schwere Verläufe. Einige haben noch lange nach der Genesung mit Folgen und Symptomen zu kämpfen. Andere Menschen leiden unter den Gesamtauswirkungen der Pandemie, unter den Maßnahmen und der Isolation. Um dem Leid entgegenzuwirken, wurde im Sommer 2021 die Post-Covid-Spezialambulanz am Fachkrankenhaus der Diakonie Kliniken Zschadraß ins Leben gerufen. Das multiprofessionell aufgestellte Krankenhaus-Team rund um Chefarzt und Ärztlichen Direktor Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber und Chefarzt Dr. Oliver Somburg widmet sich den Hilfesuchenden und ihren Problemen mit ganzheitlichen Methoden der Naturheilkunde und Komplementärmedizin.

Dr. Somburg, welches Zwischenfazit lässt sich seit dem Start der Post-Covid-Spezialsprechstunde ziehen?


Dr. Oliver Somburg: Wie wir es vermutet hatten, ist der Bedarf da. Viele Menschen leiden unter den Pandemie-Folgen und brauchen Hilfe: entweder nach einer stattgehabten Covid-Infektion mit körperlichen und psychischen Symptomen; durch die veränderten Lebensbedingungen, familiär und/oder beruflich oder auch durch ausgelöste psychische Symptome, deren Ursachen vielschichtiger sind, als es den Betroffenen bewusst ist. Auch das, was und wie sich der Mensch durch die virtuelle Welt stimulieren lässt, wie er mit Regeln und Anordnungen umgehen kann, mit einer Einschränkung seiner Freiheit, hat einen Einfluss auf seelisches Befinden und psychisches Gleichgewicht.


Für die Post-Covid-Spezialsprechstunde können sich Hilfesuchende über das Chefarzt-Sekretariat anmelden.


Welches sind die häufigsten Beschwerden, mit denen die Patienten in die Spezialsprechstunde kommen?


Dr. Oliver Somburg: Häufig sind es ganz allgemein ein Leistungsabfall, eine anhaltende körperliche Schwäche und verminderte physische und psychische Belastbarkeit, teilweise Riechstörungen oder das Gefühl der Atemschwäche unter Anstrengung und der vorzeitigen Erschöpfung. Manche gaben Konzentrationsstörungen und eine verminderte Fähigkeit zu harmloser Freude an. Gleichzeitig hatten nahezu alle Betroffenen lebensbiographische und/oder lebenssituative Belastungen ganz unterschiedlicher Art, die unverarbeitet und unbewältigt waren, die entweder nicht hinreichend bewusst oder verdrängt waren und die in der Zeit der Corona-Pandemie plötzlich wieder Leidensdruck hervorgerufen und wesentlich gestaltet haben. Dennoch war der erste Gedanke der Betroffenen sehr häufig, dass die Ursache die Corona-Infektion war. Obwohl es eine zeitliche Korrelation gab, d. h. der Leidensdruck infolge der Corona-Infektion aufgetreten war, war die Corona-Infektion nicht unbedingt die Ursache, sondern ein Auslöser. Einer, der das Fass zum Überlaufen gebracht, es aber nicht gefüllt hatte.


Was hat den Erkrankten helfen können?


Dr. Oliver Somburg: Alle Betroffenen hatten in einem sehr ausführlichen Schildern ihrer Beschwerden und ihrer bisherigen Behandlungen, im geduldigen Zuhören und Erfragen der Symptomatik und der Lebenszusammenhänge, in der Würdigung der verschiedenen Faktoren und der klinischen Untersuchung zunächst eine Entlastung erfahren. Nach der Vermittlung des Störungsmodells wurden -nach dem individuellen Erfordernis- die therapeutischen Wege aufgezeigt, entweder im Selbstmanagement und in der Selbstfürsorge, oder professionell ambulant, teilstationär oder stationär.


Gibt es Grund- oder Vorerkrankungen, die die Ausbildung von „Post-Covid“ begünstigen?


Dr. Oliver Somburg: Ja, zum Beispiel begünstigt eine Bereitschaft zu psychischen Symptomen die Ausbildung von Überlastung und Überforderung. Auch lebensbiografische und lebenssituative Belastungen, die nicht verarbeitet und bewältigt wurden oder wenn Anpassungs- und Umstellungsvorgänge nicht hinreichend gelangen, führte dies zu Symptomen und zu Leidensdruck. Aber auch bei denjenigen, die sich bereits vor einer Erkrankung mehr verausgabt haben, als sie sich erholen bzw. regenerieren konnten, waren und sind Erschöpfungszustände sowie depressive Symptome und die körperliche Manifestation von unzureichender Belastbarkeit sehr wahrscheinlich. Auch ist bei den Betroffenen eine erhebliche Lebensverunsicherung vorhanden, ein Selbstvertrauensverlust, nicht zu wissen, woran sie tatsächlich leiden. Auch gibt es das Phänomen, dass sich Betroffene aus teils-bewussten, teils-unbewussten und/oder uneingestandenen Motiven in eine Diagnose hineinleben – auch das ist eine Not, die Hilfe braucht.


Wird „Post-Covid“ Ihrer Ansicht nach eine Krankheit sein, die es auch in den kommenden Jahren noch geben wird? Oder wird sie mit Auslauf der Pandemie verschwinden?


Dr. Oliver Somburg: Die meisten Menschen haben sehr gesunde Mechanismen und Umgangsweisen mit sich selbst und anderen, um sich auch in und mit Krisenzeiten zu arrangieren. Sehr wahrscheinlich werden sich im Zusammenhang mit den Pandemie-Folgen dennoch auch im Nachhinein bei einigen Menschen noch Erkrankungen und psychische Störungen demaskieren können, die bis zu diesen außergewöhnlichen Belastungen in der Pandemie zurückzuverfolgen sind. Derartige Krisenzeiten führen im Überlebensmodus auch zu Verdrängungen und Verschiebungen von Gefühlen und Erfahrungen, die zu einem späteren Zeitpunkt plötzlich wieder aktuell werden können.


Spätfolgen einer Corona-Infektion oder allgemeine Auswirkungen der Pandemie auf die menschliche Psyche – auch noch in der Zukunft ein Thema?


Geimpft, nicht geimpft oder geboostert – stellen Sie Unterschiede fest, was die Art und Intensität der Beschwerden von Patienten angeht?


Dr. Oliver Somburg: Die Beschwerden und der Leidensdruck sind immer sehr individuell und hängen insbesondere von organischen, psychischen und psychosozialen Faktoren ab. Dabei werden die organischen Reaktionsweisen sehr von der Intensität der Immunantwort und den Auswirkungen auf Organsysteme abhängen. Die psychischen Faktoren betreffen einerseits ebenfalls diese Auswirkungen auf das Gehirn und den Gesamtorganismus, aber andererseits auch die persönlichen Reaktionen auf die Infektion und den Umgang mit sich selbst in den einzelnen Belastungen in der Pandemie. Davon hängen individuell entlastende Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien ab. Die psychosozialen Faktoren werden durch die Fähigkeit zu Anpassung und Umstellung an veränderte Lebensbedingungen bestimmt, durch ein ausgewogenes Maß an geduldigem und im Kern vertrauens- und verständnisvollem Mitgehen mit Ungewissheiten ebenso wie durch eine gesunde Abgrenzung von fremden Kontexten und nicht relevanten Informationen. In der Sprechstunde haben sich bisher Betroffene vorgestellt, die keinen vollständigen Impfstatus hatten, aber vom Impfstatus her „genesen“ waren, aber auch Menschen, die rein unter den Pandemie-Auswirkungen auf das persönliche Leben litten.


In der Pandemie scheint „Angst“ (vor Infektion, vor Jobverlust, vor Einsamkeit, vor Nebenwirkungen…) bei vielen Menschen besonders viel Platz einzunehmen, andere bezeichnen manches als „Panikmache“… Wie bewerten Sie diese Phänomene aus psychiatrischer Sicht?


Dr. Oliver Somburg: Auch hier hat jeder Mensch sehr individuelle „Überlebensstrategien“. Neu in der Pandemie ist, dass der Mensch durch die Vermittlung von Informationen mit ganz verschiedenem Gehalt aus der virtuellen Welt sehr unterschiedlich stimuliert wird und in Millisekundenschnelle in jedem Teil der Bundesrepublik und auf der ganzen Welt sein kann. Doch die heterogenen Informationen aus aller Welt mit unterschiedlicher Relevanz und aus unterschiedlichen Kontexten können nicht immer selbstverständlich unterschieden und differenziert werden. Auch das teilweise Überangebot der öffentlichen Berichterstattung an Angst-stimulierenden und/oder katastrophisierenden Informationen ist ungünstig und verursacht im Menschen rasch verschiedene Phasen des Umgangs, die aber dennoch parallel bestehen können: von der initialen Angst, über die Gewöhnung hin zur Gleichgültigkeit im passiven Pol und im aktiven Pol entzweit dieses Phänomen Menschen in ihren Auffassungen und Meinungen, erschüttert Vertrauen im Umgang miteinander, führt zu sozialen Spannungen und Unruhen bis hin zu Fehlverarbeitungen und misstrauisch-paranoidem Erleben. Dass Menschen nicht mehr wie gewohnt Nähe austauschen und in der Pandemie nicht gleichermaßen harmlose Kontakte pflegen können, ist sehr belastend für den Menschen als soziales Wesen. Dass Kultur, Theater, Sport und vieles mehr anhaltend eingeschränkt sind, ist kräftezehrend und braucht Aussicht auf Besserung, denn Ungewissheit ist ein zusätzlicher Stressfaktor für die menschliche Psyche.


Die Pandemie belastet Menschen auf die unterschiedlichste Art und Weise. Für wen ist der Besuch einer ambulanten Post-Covid-Sprechstunde sinnvoll?


Dr. Oliver Somburg: Für jeden, der nach einer Corona-Infektion einen anhaltenden Leidensdruck hat und sich nicht wieder erholt. Jeder, der Symptome bemerkt, die sich nicht zuordnen lassen und die ihn oder sie im Alltag belasten. Auch jeder der durch die Pandemie familiäre, berufliche oder soziale Lebensveränderungen erfahren hat, die ihn überfordern, über die er oder sie nicht hinwegkommt. Auch an Menschen richtet sich unser Angebot, die keine Corona-Infektion durchgemacht haben und bei denen aus einer Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit eine zunehmend quälende Not entstanden ist, eine psychische Beeinträchtigung und Überforderung im Umgang mit Lebensanforderungen, die sie sonst gut bewältigen konnten.


Chefarzt Dr. Oliver Somburg in der Klinik-Kirche der Diakonie Kliniken Zschadraß (Foto: © LVZ / Thomas Kube)